"Wir sind Fernseher, Fernhörer, Fernwisser". Max Frisch und die Reproduktion der Wirklichkeit

TSU, 212 - 15.05-15.30

Das Weltbild des Menschen setzt sich aus Wissen zusammen, von dem das Allerwenigste aus der persönlichen Erfahrung stammt. Die modernen Kommunikationsmittel ermöglichen dem Menschen über vielseitiges Wissen über die Welt zu verfügen, ohne den eigenen Lebensraum zu verlassen. Je komplexer die Möglichkeiten werden, Fernwissen zu erlangen, desto enger wird der eigene Raum.

 

Das Innenleben eines Menschen verhält sich ebenso – das entfremdete Leben aus der „zweiten Hand“, d.h. aus dem Gelesenen bzw. Fremderlebten oder gar aus der „dritten Hand“, d.h. aus Erzählungen derer, die sich eine Lebensphilosophie durch die Lektüre verschiedener Autoren zusammengebastelt haben, führt dazu, dass sogar die Lebensgeschichten, die durch Fakten und Daten belegbar scheinen und somit die Wirklichkeit darstellen sollten, in Zweifel gezogen werden können, weil sie trotzdem eine Erfindung und damit beliebig reproduzierbar sind.

 

Im modernen Zeitalter der Reproduktion, in dem jeder, der am öffentlichen Diskurs teilnehmen möchte, über ein eigenes Medium verfügt (z.B. durch soziale Medien), können die eigenen Lebensentwürfe leicht durch andere ersetzt werden, vor allem dann, wenn einem das Gefühl erschleicht, in einer fremden Welt zu leben, die das eigene Leben nicht wiedergibt. Anatol Ludwig Stiller in Max Frisch´Stiller  unternimmt ebendiesen Versuch, nämlich das eigene Leben durch einen anderen Lebensentwurf zu ersetzen.

 

Die Möglichkeit jedoch, sich einen Lebensentwurf anzueignen, ist begrenzt. Nur etwas, was es bereits gegeben hat, kann auch reproduziert werden. Durch die zunehmend kreative mediale Auslegung der Wirklichkeit, die ihre Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit erschwert und ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellt, wird die Produktion des eigenen Lebens keineswegs leichter.