Der vorliegende Vortrag versteht sich als eine Art Plädoyer für eine grundlegende Rezeption der sogenannten Kritischen Theorie, insbesondere ihrer ersten Generation (Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Walter Benjamin), im zeitgenössischen georgischen wissenschaftlichen Raum. Ist die deutsche Kritische Theorie einerseits eine Strömung innerhalb der marxistischen Tradition, die in der Sowjetunion und somit auch im damaligen georgischsprachigen Raum unerwünschtes Denkgut war, so böte die Kritische Theorie andererseits besonders wirksame analytische Werkzeuge und Perspektiven, um die postsozialistische Gegenwart Georgiens in ihrer Beziehung zur sowjetischen Vergangenheit und der von dieser Beziehung grundsätzlich mitbestimmten Zukunft bzw. Zukunftslosigkeit durchzudenken. Vier Aspekte könnten hervorgehoben werden, die das Instrumentarium der Kritischen Theorie besonders fruchtbar für das Verständnis und die Kritik der „geistigen Lage“ des heutigen Georgien erscheinen lassen: 1. Interdisziplinarität des Ansatzes der ursprünglichen Kritischen Theorie als einer ganzheitlichen normativen Theorie der Gesellschaft; 2. Kritik an der pauschalen Idee eines automatischen geschichtlichen Fortschritts, wie sie den heutigen georgischen politischen, ökonomischen und kulturellen Diskurs unhinterfragt beherrscht; 3. Eine Kritik des (bestehenden) Schlechten, die nicht nur ihre Identifizierung anstrebt, sondern auch an die normative Bestimmung des Besseren und Guten geknüpft ist, wie es innerhalb des Schlechten selbst als ein Versäumtes, bzw. mögliches Zukünftiges aufgehellt werden könnte; 4. Eine Sprachreflexion und Sprachpraxis, die die Sprache als unentbehrliches, ja hauptsächliches Organ kritischen Denkens zum Ort des Widerstandes gegen einen „instrumentellen“ Sprach- und Begriffsgebrauch werden lässt.