Den 30 November, 2022

Plenum

TSU, Die Aula - 10.45-11.15

Ernest W. B. Hess-Lüttich
(Technische Universität Berlin, Deutschland)

Von Randlagen und Brückenschlägen: Zur Politik der Mehrsprachigkeit
 im multikulturellen Raum des südlichen Kaukasus

Mehrsprachige Gesellschaften sehen sich gegenüber einsprachigen in allen sozialen Domänen mit besonderen kommunikativen Herausforderungen konfrontiert: im Alltag, in den Institutionen, in der Bildung, in den Medien, in der Politik. Wie gehen mehrsprachige Gesellschaften damit um? Welche Ansätze verfolgen sie, um den sich aus diesen Bedingungen ergebenden Zusatzaufwand gering zu halten und das soziale Miteinander konfliktfrei zu organisieren? Entlang welcher Parameter lassen sich diese Ansätze miteinander vergleichen und welche versprechen gegenüber konkurrierenden Ansätzen am ehesten Erfolg? Aus diesem Interesse will der Beitrag den Blick auf exemplarisch ausgewählte Regionen lenken, die in je unterschiedlicher Weise mit den kommunikativen Problemen multilingualer Sprachgemeinschaften umgehen und sie sprach- und bildungspolitisch zu lösen versuchen: Die europäische Staatengemeinschaft mit ihren 24 Amtssprachen, Deutschland mit seinen (türkischen, arabischen, sorbischen u.a.) Minderheiten, die Schweiz mit ihren vier, Südafrika mit seinen elf offiziellen Landessprachen, Westafrika mit seiner Spannungsbalance zwischen kolonialen und indigenen Verkehrssprachen, Indien mit 23 Amtssprachen und über 100 weiteren Sprachen). Lassen sich aus den vergleichenden Beobachtungen und linguistischen Befunden möglicherweise sprachpolitische Optimierungsstrategien ableiten? Welchen regionalen, historischen, politischen, religiösen Sonderbedingungen ist dabei Rechnung zu tragen?
Eine in diesem Zusammenhang multilingualer Sprachpolitik der germanistisch-linguistischen Aufmerksamkeit jedoch weitgehend entgangene Region am Rande der europäischen Union ist der Südkaukasus mit seiner eindrucksvollen Multikulturalität und Sprachenvielfalt. Die Neugier richtet sich neuerdings aufgrund neuer geopolitischer Herausforderungen u.a. auf die Frage, ob diese Region nicht auch neue Chancen kultureller Brückenschläge und wirtschaftlicher Entwicklung im osteuropäischen Raum bergen könne. Georgien, beispielsweise, mit seinen (je nach Zählweise) 20-30 Sprachen aus sechs verschiedenen Sprachfamilien bietet hier ein faszinierendes Forschungsfeld. Deshalb möchte der Beitrag vor dem Hintergrund der bisher angesprochenen Bestandsaufnahmen und Aufgabenstellungen vor allem das Interesse an der heutigen Sprachensituation des multiethnischen Landes wecken und fragen, ob und inwieweit die sprachpolitischen Programme der EU dieser Komplexität Rechnung tragen.