Den 1 Dezember, 2022

Plenum

TSU, Die Aula - 11.20-11.40

Merab Turava
(Verfassungsgericht von Georgien)

Die Verfassung als Charta der Grundrechte und die Evolution
der Verfassungskontrolle in Georgien
historischer Ursprung und aktuellen Entwicklungen

In der modernistischen Rechtstheorie und Rechtspraxis gilt die Verfassung europäischer Prägung als ein grundlegendes Rechtsdokument, das die Grundlage jeglichen staatlichen Handelns darstellt. Es regelt den Prozess der Bildung und Ausübung politischer Macht. Die Verfassung enthält einen Katalog von Regeln zur Ausgestaltung des Staates und legt auch den Spielraum individueller Freiheit und staatlichen Handelns sowie die Frage ihres Verhältnisses und ihrer harmonischen Ausgewogenheit fest. Es spielt die Hauptrolle in den Entwicklungen des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systems des Staates, bestimmt das Staatsmodell und seine Zukunft. Daher ist es gerechter, wenn wir es als Modell für "Staatsaufbau und Staatentwicklung", als politische Struktur und nicht nur als bloßes Rechtsdokument betrachten. Darüber hinaus ist die Rolle der Verfassung im Integrationsprozess der Gesellschaft zweifellos groß, da sie einen der wichtigsten Ausdrucksformen der nationalen Einheit darstellt.
Die Verfassung als das wichtigste politisch-rechtliche Dokument des Staates begründet und schützt die grundlegenden, fundamentalen Menschenrechte. Historisch gesehen wurde sein Ursprung von der vorherrschenden Idee der Achtung und des Schutzes der Menschenrechte bestimmt. Die Menschenrechte sind als „magna charta“ ihrem Wesen nach vielfältig und unter Berücksichtigung der funktionalen Belastung und Bedeutung unterschiedlicher Natur. Dementsprechend erfolgt die verfassungsrechtlich festgelegte Einordnung grundlegender Menschenrechte anhand verschiedener Prinzipien und Kriterien.
Der status negativus (Abwehrfunktion) verpflichtet den Staat, die Verletzung der Grundrechte einer Person nicht zuzulassen und im Falle einer solchen Handlung einen wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten. Der Zweck dieser Kategorie von Rechten besteht darin, eine menschliche Sphäre frei von staatlichen Eingriffen zu schaffen. Zu diesen Rechten gehören das Recht auf das Leben, das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, das Recht auf die körperliche Unversehrtheit, das Recht auf die menschliche Freiheit und andere.
Der status aktivus (Teilnahmefunktion) verleiht jedem Einzelnen als Machtträger das Recht, sich aktiv an der Lösung staatlicher Probleme zu beteiligen. In Rechte mit einer solchen Funktion als bürgerliche und politische Rechte gelten beispielsweise die Teilnahme an den Wahlen.
Der status positivus (Schutzfunktion) verpflichtet den Staat zum Handeln und zur Schaffung eines angemessenen Niveaus der Befriedigung grundlegender sozialer Bedürfnisse, die für die menschliche Existenz notwendig sind. Diese Gruppe von Grundrechten kann die Bildung, Arbeit, Gesundheitsfürsorge und allgemein alle soziale Rechte umfassen.
Neben den subjektiven Rechten haben die verfassungsrechtlich verankerten Grundrechte auch eine objektive Dimension. Aus dieser Sicht spricht man von der objektiven Werteordnung der Grundrechte. Dementsprechend wird auch im Teil der Grundrechte ein objektives Wertesystem etabliert und hier kommt die prinzipielle Stärkung der Wirkung und des Einflusses der Grundrechte zum Ausdruck. Die objektive Dimension der Grundrechte verpflichtet alle staatlichen Gewalten dazu, bei der Entscheidung über jede Frage die möglichen Auswirkungen des Geltungsbereichs des Grundrechts auf den Entscheidungsprozess zu berücksichtigen. Es verpflichtet auch zum sachgerechten Schutz der vom jeweiligen Rechtsystem anerkannten Rechtsinstitute. Hier spricht man über den institutionellen Charakter der Grundrechte und ihre Stärkung.
Grundlegende Menschenrechte europäischer Prägung haben in Georgien interessante Geschichte. In der Verfassung der Demokratischen Republik Georgiens von 1921 wurden erstmals die Grundrechte anerkannt. Die Verfassung von 1921 war ein außergewöhnlich fortschrittliches Dokument europäischer Natur, einschließlich der Stärkung grundlegender Menschenrechte, das voll und ganz im Einklang mit den europäischen Rechtstraditionen jener Zeit stand. Die Progressivität der ersten Verfassung Georgiens hat sich folgenderweise manifestiert: Die Verfassung garantierte die Gleichheit aller vor dem Gesetz, löste die Klassenunterschiede auf, führte das Wahlrecht der Frauen ein, schaffte die Todesstrafe ab, etablierte das Prinzip des säkularen Staates. Die Verfassung gewährleistete ebenfalls den Schutz von Minderheiten und garantierte die bürgerlichen und politischen Grundrechten, sowie die sozial-ökonomischen Rechte.
Zum zweiten Mal in der Geschichte Georgiens und tatsächlich zum ersten Mal (da die Verfassung der Demokratischen Republik Georgiens infolge der Intervention der russischen Roten Armee in Georgien im Februar 1921 tatsächlich nicht gelten konnte) wurden die Grundrechte der europäischen Prägung durch die Verfassung von 1995 anerkannt und umgesetzt. Die aktuelle Verfassung basiert auf dem historisch-rechtlichen Erbe der Verfassung der Demokratischen Republik Georgiens von 1921. Sie orientiert die Ausrichtung der Entwicklungen Georgiens im Rahmen westlicher, freiheitlich-demokratischer Werte und legt auch einen ziemlich breiten Katalog von Grundrechten fest, die zum Teil selbst den historisch gewachsenen westlichen Verfassungen unüblich sind. Besondere Erwähnung verdienen in diesem Zusammenhang das Recht auf Zugang zum Internet und die freie Nutzung des Internets, das Recht auf ungehinderte Ausübung anwaltlicher Rechte und Selbstverwaltungsrecht der Anwaltschaft und usw.
Naturgemäß ist der Konflikt zwischen der Ausübung staatlicher Gewalt und der praktischen Verwirklichung von Grundrechten in vielen Fällen unvermeidlich. Unter diesem Gesichtspunkt kommt dem Verfassungsgerichtshof als verfassungsrechtlichem Kontrollorgan im Rahmen eines harmonischen Ausgleichs öffentlicher und privater Interessen besondere Bedeutung zu, dessen Hauptzweck die Überwachung des Schutzes grundlegender Menschenrechte und Grundfreiheiten ist.
Darüber hinaus hat das Verfassungsgericht seit seiner Gründung im Jahre 1996 einen langen Weg der institutionellen Entwicklungen durchlaufen. In den letzten Jahren wurde die Qualität der Begründung und Zugänglichkeit von Gerichtsentscheidungen erheblich verbessert, was wiederum das Vertrauen in die Verfassungsgerichtsbarkeit erhöht hat. In den letzten Jahren hat das Verfassungsgericht Georgiens eine Reihe von Präzedenzentscheidungen getroffen, die einen wertvollen Beitrag zur Entwicklung des Staats- und Rechtssystems Georgiens geleistet, die Vormachtstellung und Stabilität der Verfassung gestärkt und den Rechtsstatus des Individuums erheblich verbessert haben. Der dynamische Prozess der Auslegung der Verfassung Georgiens durch das Verfassungsgericht ist durch verschiedene rechtliche Herausforderungen gekennzeichnet, die Praxis des Verfassungsgerichts entwickelt sich Jahr für Jahr und es werden wichtigste verfassungsrechtliche Standards etabliert, um einen umfassenden und unumkehrbaren Schutz der Menschenrechte zu ermöglichen.
Aus heutiger Sicht kann mit Sicherheit gesagt werden, dass das Verfassungsgericht ein auf den Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung und der Grundrechte ausgerichtetes staatliches Organ ist. Als Hüter und Ausleger der Grundrechte leistet es einen wichtigsten Beitrag zum Prozess des unumkehrbaren Wachstums des demokratischen Bewusstseins und der Entwicklung des Rechtsstaates in Georgien, die eine notwendige Voraussetzung für die Europäisierung des georgischen Staats- und Rechtssystems ist.