Levan Izoria
(Georgische Botschaft in Berlin)
Rechtsphilosophie und Verfassungstheorie
in Georgien
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam in der deutschen Rechtswissenschaft der Rechtsphilosophie eine besondere Bedeutung zu. Die Radbruchsche Formel des „gesetzlichen Unrechts“ hat veranschaulicht, dass in einem konkreten politischen System das Recht zwar gegeben aber immerhin ungerecht sein kann. Es ist notwendig geworden, nach Zusammenhängen zwischen dem Recht und der Moral, dem Recht und der Gerechtigkeit zu suchen. In dieser Hinsicht ist die Verknüpfung der Rechtsnormen sowie der aufgrund dieser Rechtsnormen getroffenen gerichtlichen u. a. politischen Entscheidungen mit den Grundlagen ihrer eigenen Rechtfertigung zu einer der dringlichsten Angelegenheiten geworden. Zur Lösung dieser Aufgabe hat die Rechtsphilosophie in der Bundesrepublik Deutschland das solide wissenschaftliche Erbe geschaffen, das auf dem juristischen Gebiet im Rahmen des geltenden Rechtes auf Stärkung der konkreten Prinzipien der Gerechtigkeit sowie entsprechenden Institutionen abzielt. Gleichzeitig sind als Ziele auf der Ebene der Rechtspolitik die gerechtigkeitsorientierte Entscheidungsfindung und im globalen Kontext die Stärkung der universalen Rechtsprinzipien definiert. Die besondere Bedeutung dieser Erbschaft kam nach der Wiedervereinigung Deutschlands erneut zur Geltung, als die Notwendigkeit der Überwindung des ungerechten Rechtssystems nochmals auf die Tagesordnung kam. Im heutigen globalen Kontext, angesichts der Auseinandersetzung zwischen den autoritären und demokratischen, also den ungerechten und gerechten politischen Systemen gewinnt die Auffassung der Grundidee der Freien Welt d. h. des Gerechtigkeitssinns immer mehr an Dringlichkeit. Allerdings ist diese Auffassung in vollem Umfang im Rahmen der Rechtsphilosophie möglich.
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion besteht in Georgien hinsichtlich der systematischen Auffassung der Rechtsphilosophie immer noch einen Nachholbedarf. Es ist wichtig, dass die kommenden Juristengenerationen das Recht nicht nur in einem rein positivrechtlichen Aspekt, sondern auch ausgehend von seinen Gerechtigkeitsgrundlagen beurteilen, kritisieren und interpretieren. Die Annäherung an die Gerechtigkeit soll zu einem Eckstein der Herausbildung des beruflichen Ethos der angehenden Juristen werden.
Die Rechtsphilosophie bietet eine gute Voraussetzung für die theoretische Auffassung der Verfassungen von demokratischen und rechtsstaatlichen politischen Systemen. Als eine unabhängige wissenschaftliche Disziplin besteht in Georgien die Verfassungstheorie allerdings nicht. Dort ist eine positivrechtliche Wahrnehmung der Verfassung, also das Verfassungsrecht, vorherrschend. Sowohl die Rechtsphilosophie generell in Bezug auf das allgemeine Recht, als auch die Verfassungstheorie in Bezug auf eine konkrete Verfassung zielen auf die theoretische Auffassung der konkreten Gerechtigkeitsprinzipien ab, durch die eine allgemeine Grundlage für die Interpretation jeder einzelnen Verfassungsnorm geschaffen wird. Die konkrete Theorie bestimmt größtenteils den Inhalt sowohl der Verfassung, als auch der vom Verfassungsgericht getroffenen Entscheidungen. Die Verfassungstheorie, die die Verfassung als Gerechtigkeitsordnung definiert, begünstigt auch auf der praktischen Ebene die optimale Annäherung an die Gerechtigkeit.
Die Erweiterung der rein positivrechtlichen Auffassung des Rechtes durch die rechtsphilosophische Wahrnehmung erhöht die Chancen für dessen Annäherung an die Gerechtigkeit, sowohl im Anwendungs- und Interpretationsprozess der geltenden Rechtsnormen, als auch im Prozess der Rechtssetzung. Der Entwicklung von wissenschaftlichen Disziplinen der Rechtsphilosophie und Verfassungstheorie kommt in Georgien eine besondere Bedeutung zu, weil so kann die optimale Verwirklichung eines gerechten politischen Systems gewährleistet werden.