Nikolina Burneva
(Universität Veliko Tarnovo, Bulgarien)
Unterwegs zum Kreuzweg.
Entscheidungen des migrierenden Ich in der bulgarischen Literatur heute
Der Fall der Berliner Mauer hat, wie mir scheint, den „Emigranten“-Charakter der Literatur, die Bulgaren irgendwo außerhalb des Landes veröffentlichten, endgültig abgeschafft.
Nikolaj Aretov
Ich will weg von hier. Aber ich weiß nicht, wohin. – Die Sätze legt Heinrich Böll einem der Protagonisten in seinem letzten Roman schon 1985 in den Mund. Der Spruch erscheint, trotz Perestrojka und „Wind of Change“, lange Zeit recht befremdend den bulgarischen Leser:innen, die das Land des Nobelpreisträgers fast wie das gelobte Land ansehen. Und dennoch, bald werden sich die Umstände ändern, und im politischen Übergang vom Realsozialismus zu Marktwirtschaft und Demokratie erfahren auch die Menschen im vormaligen 'sozialistischen Lager' bzw. 'Ostblock' die Unwegsamkeit der neuen Freiheit, unter mehreren Optionen wählen zu dürfen.
Unwegsam ist diese Freiheit vor allem, weil sie sich nicht in gewachsenen Traditionen begründen kann. Die neuere Geschichte Bulgariens stellt sich als eine Kette von harten Umbrüchen zwischen schnell aufeinander folgenden gesellschaftlichen Formationen dar – nach den knapp fünf Jahrhunderten osmanischer Fremdherrschaft folgt die kurze nationale Wiedergeburt, deren Elan in den Flammen der Balkankriege eingeht, worauf die Zwischenkriegszeit ein Taumel zwischen ländlichem Kulturkonservatismus und modernen, urban strukturierten Politiken im ökonomischen wie künstlerischen Bereich (Kapka Kasabova, „Grenze“) eintritt, um in die fast bürgerkriegsähnlichen Krisen der 1940er Jahre zu münden. Der schockierende Lebenswandel von unzähligen bulgarischen Familien durch die Sowjetisierung des Landes und daraus resultierende soziologische Umwälzungen führen zur Verdrängung vieler bürgerlicher Werte und Bräuche, zur gehässigen Ablehnung der „Menschen von gestern“ (Evelin Jecker, „Weil wir Deutsch sprachen“) und den instrumentellen politischen Grenzziehungen (Miroslav Penkov, „Östlich vom Westen“) bis hin zu den schmerzhaft erfahrenen Auswüchsen der s.g. 'Demokraciya' nach 1989, in der unkontrollierbare Gehässigkeit, Schattenwirtschaft und Korruption aus dem Boden sprießen (Zdravka Evtimova, „Maulwurfsblut“). An diesem Korpus wird die Notwendigkeit einer semantischen Neufassung des Begriffs „Migration“ als eine Kategorie des psychologischen (Selbst-)Konstruktion in progress des Ich unter den Bedingungen permanenter sozialer Krisenerfahrung behandelt.
Die Auswahl der o.a. Autoren und Titel lässt sich um viele andere erweitern, doch ist in gebotener Kürze kein statistisch repräsentativer Abriss, sondern eine ausgefächerte Lektüre von mannigfaltig anregenden literarischen Beispielen zum Thema des migrierenden Ich angestrebt.