Shorena Shamanadze
Nino Popiashvili
(Staatliche Ivane-Javakhishvili-Universität Tbilissi, Georgien)
Die Rezeption der sowjetischen Geschichte als Selbstkonstruktion
der interkulturellen Identität für die postsowjetischen
Repräsentanten der neuen ‘Weltliteratur’
Mit der Beschleunigung globaler Migrationsprozesse erweiterte sich auch Goethes Begriff der ‘Weltliteratur’. Die Literatur transzendierte nationale Modelle und schuf eine geografisch und qualitativ (mental, thematisch) veränderte literarische Welt. Das Hauptmerkmal der neuen ‘Weltliteratur’ ist die Präsenz des interkulturellen oder ‘dritten Raums’ geworden. Dieser Raum wird meist durch Texte geschaffen, die nicht ‚vor Ort‘, sondern im Ausland entstanden sind oder Migrationsthemen darstellen. Es wird relevant, moderne literarische Prozesse aus literaturwissenschaftlicher Perspektive zu bewerten, wenn AutorInnen aus dem einen oder anderen Grund aktiv ihren Wohnort wechseln und Werke in der kritischen und zugleich produktiven Dynamik von Heimatverlust und Anpassung schaffen. Sie bewegen sich ständig zwischen Erinnern und Vergessen, sie denken neu über die eigene Geschichte oder die Vergangenheit ihres Landes nach, was sich in der transnationalen Schreibweise ausdrückt, die unterschiedliche Arten von Mehrsprachigkeit impliziert, seien es Texte in der Muttersprache oder Spuren einheimischen Denkens in Texten, die in der Sprache des Aufnahmelandes verfasst sind, ausgedrückt in Redewendungen, Metaphern etc.
Italienisch-georgische Ruska Zhorzholiani, deutsch-ukrainische Katya Petrovskaya und deutsch-georgische Nino Haratishvili sind erfolgreiche Autorinnen, die mit ihren ersten Werken die Aufmerksamkeit der europäischen Literaturkritik auf sich gezogen haben und auch zu Nominierten/Gewinnerinnen wichtiger Preise geworden sind. Alle drei schreiben über die ihnen gemeinsame sowjetische Vergangenheit, sie versuchen, die Geschichte des Landes oder der Gesellschaft am Beispiel ihrer eigenen oder öffentlichen Familiengeschichte zu vermitteln, die viele Ereignisse umfasst, darunter den Stalinismus und den Holocaust. Und schließlich sind alle drei die AutorInnen der neuen ‘Weltliteratur’.
Ihre Romane umfassen viele sehr unterschiedliche Geschichten: Diese Texte können als Rekonstruktion der sowjetischen Vergangenheit, als Familienforschungsbericht oder als Denkraum für die Selbstkonstruktion interkultureller Identität gelesen werden, sowie als Beispiel dafür dienen, wie ein Individuum oder eine Gesellschaft mit ihrer Geschichte umgeht, wieweit man kritisch und objektiv ist.